Dienstag, 21. Oktober 2014

MO 20.10.14 - Mit den Ohren zeichnen II


Kurzer Text:
Die Linie hatte heute den Auftrag, bestimmte und uns allen bekannte Emotionen darzustellen.

Langer Text:
Vielleicht kommt Ihnen der Ansatz "Mit den Ohren zu zeichnen" etwas albern vor oder er liegt Ihnen erst einmal einfach nicht.
Zumindest aber ist er ungewöhnlich! Er darf Ihnen durchaus auch nicht gefallen und nicht zu den Ergebnissen führen, die Sie erwartet haben. Die Erwartungen zu unterlaufen und das Zeichnen anders oder gar neu erleben zu lassen ist ja u.v.a. eines meiner Ziele.
Falls Sie trotzdem gar nichts damit anfangen können - in Ordnung! Es geht ja vorbei, schauen Sie einfach mit etwas Geduld und Toleranz auf das gewiss nahende Ende dieser anfänglichen Übungen und versuchen Sie sich Ihren eigenen Reim darauf zu machen.

Ziel dieser Übungen ist es, Ihnen bewusst zu machen, woher Zeichnen eigentlich kommt. 
Wir sind in der Regel so sehr darauf fixiert, mit dem Zeicheninstrument eine ausserhalb von uns selbst existierende Realität möglichst so genau wiedergeben zu wollen und im Extremfall "wie in echt" zu wiederholen, dass uns einer der wichtigsten Aspekte des Zeichnens oft erst sehr spät dämmert:
Es ist die persönliche, lebendige und ausdrucksvolle Linie/der Strich/die Spur, die eine gute Zeichnung ausmacht - gleichgültig, ob man nun abstrakt oder gegenständlich zu zeichnen vor hat !
Eine langweilige Zeichenspur rettet auch nicht im Geringsten eine noch so ambitionierte Zeichnung.

Ihnen die LINIE und deren Qualitäten vor Augen zu führen, ist zunächst Thema der ersten Wochen.
In der letzten Stunde verglich ich die Linie mit der Art, wie ein Musiker einen Ton produziert. Wenn man es genauer bedenkt, sind Linien, Zeichenspuren sehr gut mit den Tönen in der Musik vergleichbar. Gleichgültig wie genau diese nun produziert werden, sie machen die Musik und lassen etwas von den Beweggründen des Produzenten erahnen. Ein nur technisch korrekter Tonvollzug mag "richtig" sein, aber Musik macht er noch lange nicht!

Die Übungen der beiden "Ohren"-Abende lassen etwas von der Vielfalt und Bedeutung des Ausdrucks der Linie erahnen.

An diesem Abend nun ging es im nächsten Schritt darum, den Gefühlen, die in der vergangenen Stunde mit der Musik verbunden und dadurch im Wortsinn noch undeutlich waren, konkretere Bedeutung mitzugeben.

Die Linie hatte dagegen heute den Auftrag, bestimmte und uns allen bekannte Emotionen darzustellen. 
Die Ohren hatten dabei die Rolle, den ausgesprochenen "Spielauftrag" ("Wut", "Angst", "Freude", "Überraschung" etc) zu hören und via Hirn, Herz und Verstand den Zeichnenden dazu zu bringen, nachfühlend der Linie eine immer zwar persönliche aber oft für andere dann doch erstaunlich plausible Form zu geben, die die genannte Emotion darstellt.
Meine belegbare Behauptung ist es, dass wir alle von Geburt an weltweit das gleiche Grundrepertoire der dem Menschen möglichen Grundgefühle kennen, wiedererkennen, deuten und (mit der Zeit auch mit dem Zeichenstift) darstellen können. Eine evolutionäre Notwendigkeit, die Orientierung geben kann, Schutz, Abwehr oder Öffnung veranlasst.
Darauf setzten die Übungen des Abends an. Dass komplexe Emotionen schon schwerer zu erfassen und wiederzugeben sind, wurde nebenbei natürlich auch klar - was aber spätestens bei der kommenden Auseinandersetzung mit dem Zeichnen von Menschen spannend wird.

Ich nenne die vorgestellen Übungen "Übungen zur Empathie", eine Voreinstellung, die der Zeichner unbedingt trainieren sollte. Denn jede Zeichnung geht von uns, also unserer Wahrnehmung der Welt und der Auseinandersetzung und Kenntnis des Selbst aus: Man kann eigentlich nur richtig zeichnen, was man in sich kennt und nachvollziehen kann - ist meine noch zu beweisende These. Die ich vorerst einmal so stehen lasse.

Abschliessend versuchten wir dann zum ersten Mal alles bisher Gelernte in raschen gestischen Zeichnungen von konkreten Menschen vor uns anzuwenden. Ich erklärte Ihnen, was eine Geste ist und wie man diese so schnell, wie man sie machen kann auch als Zeichengeste aufs Papier bringen kann, die nicht notwendig deutbar eine menschliche Figur darstellen muss, sondern die Energie einer Bewegung oder einer Tätigkeit. Wir haben dabei auf Zuruf wacker allerlei Emotionen auf unsere Modelle projeziert und diese zu zeichnen versucht, indem wir der Linie den mutmasslichen Seelenzustand des Gegenüber mitgaben. Heftige Gefühle wurden deutlich und mehr oder weniger unterscheidbar erkennbar...

Wir werden so ab jetzt immer mal wieder und zunehmend häufiger das Zeichnen von Menschen üben.


Folien des Abends:

















Beispiele:





Beispiele:




Montag, 20. Oktober 2014

MO 13.10.14- Mit den Ohren zeichnen

Kurztext:

An diesem Abend ging es darum, Anregungen aus der Musik in das von Ausdruck und Gefühl getragene Linienproduzieren einzubeziehen.


Folien:





















Langer Text:
(work in progress)

Nachdem wir vergangenen Montag relativ spontan und unbefangen erste Warmups zeichneten, die uns eine Begegnung mit unserem jeweils persönlichen Strich brachten, kreiste die zweite Stunde um die Untersuchung unseres Ausdrucks.

Der in der Welt der Zeichnung gebräuchliche Begriff für die mit der Persönlichkeit des Zeichners verbundene Qualität der Linie ist DUKTUS.

Ein Vergleich mit unserer tief sitzenden Gewöhnung an einen ausgeglichenen und geradezu gleichförmigen Schreib-duktus führte klar vor, dass diese für die Sprachkommunikation sinnvolle Haltung geradezu ein Hindernis beim Zeichnen darstellt. 
Also ist nicht nur die Schreibhaltung des Werkzeugs, sondern auch die überaus kontrollierte und gleichförmige Art und Weise der Linienproduktion für das Zeichnen ungeeignet.

Es gibt in der Zeichenkunst überraschenderweise keine verbindliche Sprache über die Linienqualität. Der von Zeichenlehrern oft geäußerte Hinweis, beim Zeichnen doch bitte die Linienstärken und den damit verbundenen Druck der Hand bzw. des Instruments zu variieren, macht den Anfänger oft ratlos: Worin sollen denn diese Unterschiede im Strich begründet sein? Wann und warum soll man das denn tun? Ist das nicht oft beliebig und dem Augenblick, dem Zufall, der Stimmung unterworfen? Oder gibt es dafür Regeln?
Berechtigte Fragen, die sich im Prinzip nur der Zeichnende im Laufe der Zeit und Übung selbst beantworten kann. 


Da es wie gesagt für die Zeichner keine verbindliche Sprache dafür gibt, machte ich den Versuch, einen Übertrag aus der Musik zu wagen. In der notierten Musik gibt es für den Interpreten Hinweise auf die Ausführung und den Ausdruck der jeweiligen Passage eines Musikstückes. In der musikalischen Ausführung ist hier der Kern der künstlerischen Interpretation, denn die Anweisungen lassen immer Spielraum der Deutung.

Ähnliches könnte man nun auf die gezeichnete Linie übertragen:
Stellt euch vor, der Zeichenstift sei ein Instrument, die ausgeführte Spur der Ton.
Der Ausdruck einer Spur, eines Tones wäre dann aus den folgenden Elementen gebildet:

1) ARTIKULATION = Art der Ausführung, die Art des Ansatzes:
Von STACCATO (abgehackt, unverbunden, abgesetzt) <----> bis LEGATO (fliessend)

2) TEMPO = Geschwindigkeit der Ausführung:
Von LARGHISSIMO (sehr breit, behäbig) <----> bis PRESTISSIMO (sehr schnell)

3) DYNAMIK = Stärke oder Kraft der Ausführung:
Von piano pianissimo (ppp, sehr zart) <----> bis forte fortissimo (fff, sehr kräftig)

Spielt bitte in künftigen Warmups einfach alle Möglichkeiten und Kombinationen der Strichbildung durch, zum Beispiel:

- Sehr schnell ausgeführte, abgehackte, aber zart gesetzte Striche - und umgekehrt.
- Lang fliessende, ruhig ausgeführte kräftige Spuren - und umgekehrt.
- Sehr kräftige, behäbig aber abgehackt gesetzte Spuren - und umgekehrt.

Zwischen den genannten Extrempolen liegen viele Nuancen des Ausdrucks. Es sind unerschöpflich viele Kombinationen der genannten Elemente möglich.


Ziel der Übung insgesamt:
Euch soll zunehmend auffallen, dass ihr mit einem einzigen Werkzeug wie z.B. dem Signierstift viele Möglichkeiten des Ausdrucks habt. Je bewusster man diese Elemente der Spurbildung einsetzt, desto lebendiger und individueller werden eure Zeichnungen, gleichgültig, ob man nun abstrakt oder gegenständlich arbeitet.

Achtet einmal ganz bewusst beim Betrachten von Arbeiten anderer Zeichner, wie diese ihren Strich setzen: 
Van Goghs geschwind und dynamisch gesetzte Rohrfederspuren,   


Daumiers lebendig-nervös und flirrend unbestimmt gesetzte Reuelinien,

Ingres zuweilen bestimmt und klar geführte Grenzlinien,

Klimts zärtlich fliessende Linie. 


Ignoriert dabei einmal, WAS gezeichnet wird, sondern beobachtet nur das WIE.



Allgemeines zu den WARMUPS:

 Bei den Warmups lege ich grossen Wert darauf, dass ihr diese so locker wie möglich machen könnt und frei und ungezwungen, ohne gestalterische Auflage, einfach drauflos zeichnet. 
Vermeidet also beim Warmzeichnen alles, was euch hemmen will oder lange überlegen lässt. Das Warmup ist nicht das Endspiel. Die nachfolgenden Übungen sind nur "Freundschaftsspiele", hierbei gibt es nichts zu perfektionieren ;-)....

2 Warmups des Abends:
Zur Einstimmung haben wir  3 grossformatige "Sudeleien" gezeichnet, in der ihr die Aufgaben hattet:

- Mach es Schwarz
- Mach es Mittelgrau
- Mach es kaum Grau

Überraschend vielfältig die Lösungen, warm gezeichnet haben wir uns aber alle dabei. das war das Ziel.

Übungen des Abends:
Wir haben die folgenden Übungen am Abend mit Hilfe einfacher, minimalistischer Musikstücke und ohne jede theoretische Voreinstellung gemacht. 
Wenn ihr das Folgende zu Hause üben wollt, legt euch bitte entsprechende Musik dazu auf, notfalls aber kann man Musik auch nur denken.


 1) STACCATO

Zeichnet auf dem abgegrenzten, viereckigen Spielfeld eines möglichst grossen Blattes alle möglichen abgehackten, abgesetzten Spuren, mal zart, mal kräftig. Immer wieder an- und absetzend, sodass euch ein gewisser Puls oder Rhythmus auffällt, auch in Bewegungen, die euch eigentlich gar nicht liegen.

Wechselt das Tempo, die Kraft, auch die Richtung und Grösse der Spur darf sich ändern. Denkt an ein staccato vorgetragenes Musikstück und zeichnet direkt, was ihr hört. Oder legt euch zu Hause Musik auf und zeichnet dazu, auch mit geschlossenen Augen. Singt oder summt euer Bild.









2) LEGATO

Die gleiche Spielanordnung wie oben, dieses Mal allerdings mit fliessenden Spuren.



3) Staccato und Legato





Übung des Abends:  Staccato, legato, laut und leise, schnell und langsam



Werke des Abends:

"Das große Orchester stimmt sich ein" oder: Ekstatisches kakophonisches Ensemble

alternativ:
Der Lärm der Strasse



Hausaufgabe:

Zeichnet weiterhin alle Möglichkeiten des Ausdrucks zwischen Staccato und Legato, so zart und kräftig wie möglich, mal schnell, mal bedächtig.
Zeichnet auch einmal mit geschlossenen Augen zu eurem Lieblingsstück, experimentiert mit fremden Musikstücken in unterschiedlichen Tempi und anderem Ausdruck.

Schaut, welche Palette an Spuren ein einziges Werkzeug hergibt, indem ihr den Stift in allen erdenklichen Haltungen und mit unterschiedlichem Druck verwendet.

Ruhig auch öfter mal ein ganz systematisches Blatt, auf dem ihr nebeneinander gestellt festhaltet, was ihr entdeckt habt:



Für diejenigen, die Musik nicht mögen (gibt es das??) , lassen sich alle Übungen auch auf Geräusche und Klänge des Alltags übertragen:

Zeichnet eine belebte Strasse - nur den Höreindruck allerdings, nicht die konkreten Dinge!
Oder stellt euch einen Wald vor bzw. seinen Klang. Wie das Meer klingt. Oder der Wind.
Hört mal bewusst Fernsehn und zeichnet spontan, was ihr gerade hört, wie ein seismografisches Gerät.



Sonntag, 12. Oktober 2014

MO 6.10.14 - Die Linie an sich

Kurzfassung des Abends:

Wir haben kennengelernt,

- wie man als Zeichner zeichnet und mit einer anderen inneren und äusseren Haltung  das immer wieder gerne aufkommen wollende Kontrollbedürfnis überlistet. Ich habe das den "Teufel der Antizipation" genannt und damit die kontrollierenden und bewertenden Instanzen im Innern und Äusseren gemeint, die nicht nur das Zeichnen erschweren bis unmöglich machen. Wir werden diesen üblen Gesellen dauernd begegnen...
(Das beeindruckende Fremdwort schenke ich Ihnen für passende Gelegenheiten...)

- dass man nicht nur schlampig zeichnen darf, sondern geradezu muss. Ich habe das Sudeln genannt und empfehle es generell allen Zeichnern allen Alters und Könnens, denn hier entstehen Ideen oder wenigstens beachtliche Mengen von Zeichnungen, worunter dann gelegentlich auch gerne mal eine Brauchbare ist. Also kurz gesagt: DrauflosTUN statt Grübeln, oder: Erst mal Quantität, denn die Qualität folgt...versprochen.

- Dass es an sich nur 2 Arten von Linien gibt: Die Gerade, die nicht immer perfekt gerade sein muss, aber immer irgendwo anfängt und immer irgendwohin und vor allem weg will.
 Und die Krumme oder Gebogene, die nicht immer genau weiss, wohin sie sich wie stark krümmt, dabei aber gerne auch an allerlei Rundungen erinnert, die organisch wirken.

Es gibt genau genommen noch eine weitere Linienart, die Unregelmässige, die aber genau betrachtet mit den beiden zuerst Genannten verwandt ist und von allem etwas hat. Diese werden wir im Laufe des Kurses auf jeden Fall auch noch genauer betrachten.

Ansonsten war der Abend stark bestimmt von heftiger, überwiegend körperlich bestimmter Zeichenproduktion, die beeindruckende Ergebnisse brachte:





Folien:
 Motto des Abends:
 Dass auch die ganz grossen Zeichner wie Rembrandt, Tiepolo, van Dyke und Anonymous (Schülerin des vergangenen Kurses) ihre Linien aus der inneren und äußeren Bewegung hol(t)en, haben wir bei detaillierter Betrachtung der Zeichungen entdeckt, die ich schon am ersten Abend vorstellte:







Lange Textfassung:

Die Linie an sich

Zu Beginn des Abends habe ich Ihnen einen ersten Überblick über die Inhalte des gesamten Kurses gegeben und Ihnen zu erklären versucht, welchen Stellenwert meiner Meinung nach die Herangehensweisen haben, die wir von Natur aus schon mit uns bringen und die nur spielerisch zu Tage gefördert werden müssen. 

Wir bringen generell viel mehr schon mit, als uns zumeist bewusst ist. 

Zunächst geht es also darum, sich locker und unverkrampft ohne Druck an das Blatt zu wagen, 
ungehemmt Bewegungen zuzulassen, die das großformatige Zeichnen erfordert, 
- die Haltung eines Stiftes zu üben, 
- die eigene Haltung zu erkennen und 
- Aufmerksamkeit für die eigenen Herangehensweisen zu üben. 

Und vor allem: Sich nicht beurteilen lernen - denn das Bewerten verhindert generell den Lernfortschritt.

Also: Gewonnen hat die schlechteste Zeichnung!


"Es ist so schön, der Linie beim Entstehen zuzuschauen" (Zitat des Abends)

Im Zentrum der ersten Stunde und der nächsten Abende dieser ersten Einheit steht die LINIE an sich:

- Die Linie als persönlicher Ausdruck, als quasi "seismografisches", motorisches Phänomen.

- Die Linie an sich entsteht aus der Bewegung (man kann auch sagen aus der Emotion, was auch der Wortsinn sagt: ex movere = hinaus gehen, aus sich gehen...).

- Die Linie ist dynamisch, ein aus der Ruhe gebrachter Punkt mit mehr oder weniger klarem Ziel und in gewisser Spannung.

- Das Zeichnen macht sichtbar, oder: Die Linie macht sichtbar, was vorher unsichtbar in uns war. Sie kann uns damit überraschen.


ABER WICHTIG: Sie zeichnen zu Beginn, ohne etwas fest Umrissenes abzubilden. Also bitte keine Abbildung und vor allem keine Symbole! Also: keine Herzen, Bäume, Münder, Spiralen und vor allem keine starrenden Augen, die sofort die Aktion bannen! Probieren Sie es aus, einmal gesetzt, werden sie diese bedeutungsschwangeren "Magneten des Blicks" nicht mehr los und die ganze Zeichnung kreist darum...

Sie bilden also vorerst nur die Linie selbst ab. Diese steht in Verbindung mit Ihrer Aktion, ihrer Bewegung, ihren Entscheidungen. Das zu merken und zuzulassen ist der erste und auch künftig entscheidende Schritt. 
Alles geschieht im Augenblick und in der Gegenwart. Alles, was man sich vorher vorgestellt hat, sieht im Tun sowieso immer anders aus. 
Empfindlich zu werden für diesen Dialog mit sich und dem Entstehenden und Geistesgegenwart zu schulen - das ist im Kern das Ziel dieser ersten Einheit. Ein Anfang und zugleich im Prinzip das, was uns als Zeichnende immer beschäftigen wird. 

Vor dem Modell, dem Gegenstand oder dem momentanen Einfall wird man immer mit leeren Händen stehen - und das ist gut so! Daraus wird eine echte Zeichnung.

Dass Sie sich trotzdem immer etwas dabei denken, dass ihre Linie etwas anspielt, an etwas erinnert, ist unumgänglich - und das ist das eigentliche Geheimnis jeder Linie. Insbesondere Ihrer persönlichen Linie, die Sie zunehmend erkennen, entwickeln, mit Kenntnis und Gefühl aufladen werden. Zum Glück ist die Linie damit zugleich auch "geheimcodiert", kein Mensch kann ahnen, was man gedacht hat...meistens...
Die Linie ist demnach also an sich und sie ist immer auch noch etwas anderes...

Sie sehen und beobachten, welche Extreme eine Linie darstellen kann: von der zielenden Geraden über die wandernden Gebogenen bis zur nervös suchenden Tatterei. Die auch gut ist. "Reuelinien" heissen manche Linienarten tatsächlich. Und wie die Linie mit Ihren Stimmungen und Entscheidungen, Ihrem Atem, den Ängsten, Verkrampfungen und (Hauruck...)-Lösungen oder Ihrer Feinheit, ihrer Vorsicht, dem Kontrollbedürfnis oder der Entschiedenheit oder Unsicherheit zusammenhängt.

Auch wenn Sie später versuchen werden, objektiv das von ihrem Innern fernliegendste Abbild eines Objektes schaffen - es wird immer Ihre Linie sein, die die Zeichnung schafft. Sie entgehen Ihr selten - eigentlich fast nie - es sei denn, man möchte zur Maschine, zum Fotoapparat werden, perfekt und kühl Technik beherrschend...das kann man, das aber verlässt dann oft den Zeichenkunstbereich.


Zum Zeichnen gehört eine Haltung:
Es gibt keine falsche oder richtige Haltung - aber es gibt eine zweckdienliche innere und äussere Haltung. Diese werden wir je nach Aufgabe und Gegenstand miteinander erarbeiten.Ich habe Ihnen zu Beginn eine der üblichen Schreibstifthaltung entgegengesetzte Zeichenhaltung des Stiftes demonstriert und zur Nachahmung empfohlen:






Mit dieser unüblichen Haltung verlieren Sie erst einmal die gewohnte Kontrolle. Sie werden sie anfangs deshalb bestimmt auch nicht mögen und spontan in alte Gewohnheiten zurückwollen - aber geben Sie nicht zu schnell auf, erproben Sie die Möglichkeiten anderer Haltungen. Denn Sie gewinnen mit der Zeit einen ungeheuren Freiraum des Ausdrucks.
Fassen Sie den Stift unterschiedlich an, mal weit hinten, dann ganz vorne, drücken Sie fest oder lassen sie die Spitze ohne Anstrengung fein und leicht tanzen...Sie werden die vielen Ausdrucksnuancen erfahren, je öfter Sie in dieser Haltung üben.


Allgemeines zu den allabendlichen "Sudeleien" oder schöner neudeutsch: WARMUPS

Wir werden alle diese wichtigen Vor-Einstellungen und Feinjustierungen des Körpers und Geistes, des Atmens, der Werkzeugbehandlung immer mit den sogenannten WARMUPS entwickeln. Lockerungsübungen also, wie sie der Sportler und Musiker kennt, warum nicht auch der Zeichner?

Hausaufgabe ab jetzt für immer ;-) : 
Produzieren Sie abertausende Sudelblätter voller Warmups, verbrennen Sie den Mist (aber nicht gleich), behalten Sie die guten, schneiden Sie Überraschendes aus und kleben es auf ein Blatt. Sammeln Sie diese Erfahrungen. Oder kritzeln Sie etliche billige Schulübungshefte voll mit mehr oder weniger unsinnigen Krakeleien!

Am Anfang bitte ich Sie die Warmups und Übungen mit nicht allzu filigranen, "kultivierten" Werkzeugen, sondern den groberen Fettkreiden oder Grafitblöcken zu zeichnen. Das Spitzen ist eine Kunst, die ich Ihnen erst zeigen möchte. Feine Kohlen sind schön, aber verlangen eine geübte Hand. Das kommt später.

Jedes Warmup sollte möglichst grossformatig ( je grösser, desto besser) in Körperdimension gezeichnet werden. 


Thema des Abends war die Erfahrung der beiden unterschiedlichen Arten von Linien:

- Die Gerade, die an sich immer etwas Zielstrebiges, Trennendes und Klares hat.
- Die Gebogene, die sich entweder zu sich zurück bewegt (Kreis) oder wandernd, verspielt bis ziellos umher streift.
Andere Grundlinienarten kenne ich persönlich nicht, wenn jemand noch eine andere finden sollte, her damit...

PRAXIS:

SUDELEIEN aller Art: 
A3 Blätter füllen, zukritzeln, schlampig zeichnen, spielen, ausprobieren, Haltungen ausprobieren, sich zusehen lernen

Übung 1: 
Die erste Übung zur Geraden diente dazu, das Spielfeld zu eröffnen und mit mehr oder weniger entschiedenen geraden Strichen zu füllen. Kreuz und quer. Bis das Blatt voll ist. Sie werden staunen, wieviele Stunden lang Striche so ein Blatt aushält bis es schwarz von Strichen ist... 
(Strich. Linie. Spur. Marke)

Diese Übung war ein Vorgriff, wir werden uns das noch einmal genauer anschauen:
( Die zweite Übung zur Geraden sollte eine erste Aufgabe an die Gerade stellen, indem sie zielgerichtet gezeichnet wird:
Hier ging es um den oft selbstentmutigenden Mythos von der Geraden, die der Anfänger immer behauptet, nie und nimmer ziehen zu können. Und Sie können es doch! Wetten?
Man muss nur wissen, wie:
Setzen Sie einen Ausgangspunkt A und einen Zielpunkt B, fassen Sie das Ziel ins Auge, setzen Sie die Stiftspitze auf A. Schauen Sie nicht auf den Stift, sondern schauen Sie auf das Ziel. Zeichnen Sie nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Ziehen Sie die Linie in der Länge eines Atemzugs! Ziehen Sie kreuz und quer aus allen Richtungen. Mal stark, mal schwach.Sie sehen: Die Gerade ist gar kein Problem.)

Diese ersten Übungen sollen Ihnen zeigen, dass Sie mit der Vorgabe, von einem Ausgangspunkt A zu einem Zielpunkt B eine Gerade zu zeichnen in der Lage sind, wenn Sie das ZIEL ins Auge fassen und nicht allzu verkrampft und ängstlich auf die Ausführung der Spur unter der Stiftspitze starren. Dies gilt konkret wie mental. Sie dürfen diese Erfahrung auch auf den ganzen Kurs beziehen. Ob Sie das Ziel treffen, ist zweitrangig. So ist das Leben eben. Wo sie ankommen, hat Gründe - und ist so...Und man kann glücklicherweise immer daran arbeiten...


Übung 2: Die Gebogene oder "Eisbahn nach der Schlittschuhkür"
Wie oben, nur diesmal doch ganz anders...;-)

Übung 3 : "Wachsen" 
Hier haben Sie zum ersten mal der Linie an sich eine formgebende Vorstellung mitgegeben und zu gestalten begonnen. Es ging hier nicht darum, mit der Linie etwas abzuzeichnen und so die Linie zu benutzen, etwas anderes darzustellen, sondern viel eher darum, den Linien die Idee des Wachsens (z.B. unsicher anfangen und trotzdem nach oben zum Licht hin streben, auf Widerstände treffen, den Weg suchen, Umkehren oder Durchsetzen, Eigenarten entwickeln etc.)
D.h. die Linie steht für sich und bildet nicht etwas anderes ab! Wenn Sie das in Erinnerung behalten, haben Sie bereits einen wichtigen Schritt getan, die Abstraktionskraft des Zeichnens zu verstehen.

Der Maler und Zeichner Paul Klee hat das so ähnlich wie folgt ausgdrückt: "Dem Zeichner geht es um die formenden Kräfte, nicht um die Enden der Form..."

Fazit:

Am Ende des ersten Abends sollten Sie erlebt haben, dass die vorgestellten Linienarten unterschiedliche Wesen haben, die Sie auch beim Zeichnen zu unterschiedlichen Haltungen, Gefühlen, Ausdrucksweisen, Energien führen. Dass man dabei seine Vorlieben, Strategien und Hemmungen erlebt und einschätzen lernen kann, ist intentional. 
Die Kontrollierten können von den Losgelassenen lernen und umgekehrt...jeder lernt eben anders.

Die Sudeleien und Warmups sollen künftig in der Regel wenigstens 20 Minuten in Anspruch nehmen. 

Mich haben sie aber auch schon Tage und Wochen über Wasser gehalten, in (scheinbar) einfallslosen Zeiten. Es kann sich daraus wie von selbst etwas entwickeln. Vergessen Sie nicht: Sie denkfühlen/fühldenken wie von selbst, unser Betriebssystem ist tief und rätselhaft und zu 99% unbekannt/unbewusst. Die vorgestellte "Seismografik" steht in Verbindung damit...Der Musiker improvisiert und erfindet Melodien aus dem Tonleitergedudel - so der Zeichner! Aus so manchem ziellosen Gekritzel entsteht plötzlich eine Bildidee... und der Zeichentag ist gerettet.

Ach so, nebenbei, üben hilft....

UNTERWEGS - Von 2011-2022 / Graphic Novel "Unterwegs - 8 authentische Stories" und Ausstellung "Urban Sketching" im Horber Kloster vom 9.9. - 2.10.22

 Ausstellung HORB 9.9. - 2.10.22 GEZEICHNETE REISEBERICHTE - AUSSTELLUNG "Urban Sketching" im Horber Kloster vom Fr. 9.9. - So 2.1...