Dienstag, 11. November 2014

Mo 10.11.14 - Mit dem Feinsinn zeichnen. Textur und Struktur

Kurztext:

Zu Beginn des Abends habe ich noch einmal zusammengefasst, was wir "aus dem Stand" mit der Linie beim spontanen Zeichnen erleben können:

Ohne jede Voraussetzung kann jeder Mensch, der einen Stift halten, die Bleistiftspitze identifizieren und aufsetzen kann, Linien produzieren, die

- unterschiedliche äussere Bewegungen motorisch protokollieren (1.Stunde).

- Diese Bewegungen (wie in der Musik) mit unbestimmten Gefühlen mal stärker oder schwächer, mal schneller oder langsamer, mal kontinuierlicher oder abgehackter darstellen (2.Stunde: Mit den Ohren zeichnen, nach Musik).

- Innere und äußere Bewegung mit sehr bestimmten und uns allen vertrauten Gefühlen  darstellen (3.Stunde: Mit den Ohren zeichnen, Grundgefühle),

- auf einem Spielfeld (Zeichenblatt genannt) mehr oder weniger spannungsvoll in Aktion und Pausen verteilt werden können (4.Stunde).

An diesem Abend näherten wir uns dann dem Gegenpol zur heftigen motorischen Zeichnung der ersten Stunde, indem wir Linien, Spuren, Zeichen ganz konzentriert und beinahe meditativ zu mehr oder weniger belebten Texturen und Strukturen verwebt haben (5.Stunde).

Ziel der vergangenen Abende war es also, die unerhörte Spanne von Zuständen und Möglichkeiten des Zeichnens und der dabei entstehenden Spuren einmal erlebt zu haben - und dabei herauszufinden, was einem liegt und was nicht.

Nachdem wir also in der vergangenen Stunde mit grosszügigem und entspanntem Blick auf "Das Große Ganze" zu achten lernten, steht diesmal das krasse Gegenteil, nämlich  "Das winzigste Detail" an.
Heute ist auch endlich der grosse Tag der "Controllettis", die mit Geduld und Pingeligkeit feinst ihr Gewebe konzentriert zu Ende kritzeln, während die Grosszügigen heute schwer leiden und stöhnen...
Denn heute geht es um den geduldigen, scharfen Blick auf das allerkleinste Detail.
Und alles, was bislang verboten war ist erlaubt: Herzchen, Sternchen, Augen, Münder, Bäume, Blätter, Blümchen....

Im Kern geht es um die zeichnerische Feinstruktur, d.h. statt wie bisher locker zu kritzeln, werden wir heute geduldig ins Allerkleinste der Zeichnung gehen.


Folien:


Zunächst gab es Bildchen zu sehen:

Die erste Folie zeigt uns womöglich vertraute Spielereien, die oft in langweiligen Meetings, beim Telefonieren, also nebenbei und wie unbewusst entstehen. Dass man daraus etwas machen, ja sogar bewußt pflegen und  erwitern, verfeinern kann, zeigen Ansätze wie die sog. Zentangles (bitte googlen). Und wenn ihr dabei seid, googled auch gleich mal Doodle, das amerik. Wort für spielerisches Rumkritzeln:

 Ein wahres feines und sehr gepflegtes Doodle:



Dass ernsthafte Künstler mitunter auch gerne spielerisch ins Detail gehen, ist hier zu sehen

Feinstruktur und Vollansicht von Rembrandt, Flucht nach Ägypten (Radierung):




Feinstruktur und Vollansicht von van Goghs Rohrfederzeichnung eines Gartens:



Feinstruktur und Vollansicht von Jean Dubuffets Federzeichnung "Marc Aurel".


 Feinstruktur und Vollansicht von Horst Janssens Federzeichnung "Fuchskopf":

 Feinstruktur und Vollansicht von S.Kuhlbrodts Federzeichung "ecstatic botanic- Comicformen der Natur".

Feinstruktur und Vollansicht von S.Kuhlbrodts Federzeichung "horror vacui":




Ausführlicher:

Phantasie ist gefragt, wenn hier so viele Kleinstelemente, Kürzel, Krümel aus allen nur denkbaren visuellen Bereichen zusammenkommen:
- Schriftzeichen, zerlegt in ihre Kleinstbausteine
- Hieroglyphen, alte Schriftsysteme (Keilschrift etwa...)
- Pünktchen, Häkchen, Schnörkel aller Art und Grösse
- Zeichen, wie man sie auf Landkarten verwendet
- Ornamente, Symbole
- Botanische, mathematische oder sonstige Kürzel

All das birgt Elemente, die man für alle Arten von Zeichnungen nutzen kann. Es geht hier darum, geduldig eine Oberfläche, ein Gewebe und Gewimmel von Kleinstformen miteinander so zu verweben, dass diese eine lebendige Struktur wie aus einem feinen Stoff ergeben. Das verlangt natürlich Durchhaltevermögen.
Es darf durchaus geschehen, dass man dabei plötzlich meditativ und wie in Trance arbeitet.

Zu beobachten gilt es ab jetzt und für immer (;-)) Muster aller Art, sammelt Ornamente, Muster, Verzierungen, Schnörkel etc. Beobachtet, wie Zeichner auf detaillierten Radierungen die Oberflächen der Dinge mit Hilfe unzähliger addierter Kleinstformen wiedergeben, um so die Erscheinung von bestimmten Materialien nachzuahmen.

Es geht diesmal auch um den langen Atem, die Geduld, eine grosse Fläche langsam zu Ende zu zeichnen. Es geht auch um pfiffige Strategien, nur den Anschein davon zu erwecken, indem man an den entsprechenden Stellen weglässt und es der Phantasie des Betrachters überlässt, das angefangene Muster im Geist zu ergänzen.

Die ausgeteilten Kopie aus dem Daucher S.35 zeigt diese Strategie deutlich, hier ist weniger gezeichnet, als man zunächst annimmt!



Warmups und Übungen:

Für das Warmup habe ich mir etwas Besonderes einfallen lassen: "Komposition aus Buchstaben".
Das ist eine Vorübung für das Zeichnen von Texturen. (Man kann dabei mal über die Verbindung und Verwandtschaft von "Textilien", "Text" und "Textur" nachdenken. Bei allen geht es um Gewebe...)

Nehmt also euren Namen oder sonst ein geläufiges Wort, schreibt die einzelnen Buchstaben in alle Richtungen, in verschiedener Grösse, mal verkehrt herum, mal nur Fragmente eines Buchstabens, verbindet die entstehenden Flächen zu Figuren, zerlegt die Buchstaben in ihre Bestandteile: Pünktchen, Haken, Kreuzung, Bogen und spielt den ganzen Vorrat an Figuren in allen Grössen und Richtungen durch! Und nutzt die Lehren der vergangenen Stunde, wenn es um die Verteilung und Komposition geht.
Nebenbei kann diese Übung eine Art "Einfallsmaschine"werden, indem man sich mit den entstehenden Formen und Strukturen auf Kompositions- und Zeichenideen bringen kann (was ich im Anhang bei den Ergebnissen zeige).

Es gilt ab jetzt immer: SPIELT mehr und setzt euch dabei nicht unter Druck!
Zeichnen gehört in den Bereich der MUSEN, nicht MUSSE!
Und lernt es, langsam zu werden im Äußern von Urteilen, so manche gute Idee erstickt sonst unter zu früher (Selbst-)Kritik.



Ich habe euch 3 mögliche Themen gegeben, die man formatfüllend auf einem mind. A4-grossen, besser noch A3 großen Zeichenblatt anfangen sollte (da es sehr kleinteilig zugehen sollte, wird euch nichts anderes übrig bleiben, als die Zeichnung geduldig und mitunter auch nur minutenweise zu Hause fertigzustellen - aber bitte stellt sie fertig, euch selbst zuliebe, auch wenn es schwer fällt... Vielleicht dämmert diesem oder jener nebenbei der tiefere Sinn der Sache, die Sache mit der Versenkung meine ich...):

1) "Aus der Form geratener Hieroglyphenbrief" - spricht für sich, schreibt euch einen Geheimbrief, in dem alles steht, was mal gesagt werden musste....

2) "Eintausend fantastische Blüten blühen auf meiner Wiese" - von oben also ein Blick auf ein Meer von Blütenformen und -zeichen. Ein Lexikon der Botanik ist hier hilfreich oder ein Spaziergang mit wachem Blick...

3) "Bakterienkrieg". Die guten (rundlichen?) gegen die bösen (spitzigen, stachligen??) Kleinstformen liegen im Kampf miteinander...es wird ja nicht überall gekämpft, also gibt es gut verteilt Schauplätze...




Werkzeuge des Abends:

Ein wichtiger Part des Abends war es, dass ich euch aus einer herkömmlichen Haushaltswarenabteilung eines Supermarktes ernsthaft nutzbare Profiwerkzeuge des Zeichnens mitbrachte, dringlich ans Herz legte und zum Ausprobieren austeilte. Man sollte sehen, daß man hinsichtlich der Instrumente durchaus auch Phantasie aufbringen kann und sollte. Probiert alles aus, lasst euch von den eigenwilligen Spuren ungewöhnlicher Zeichenwerkzeuge inspirieren.

Für den Abend haben wir zudem verdünnte Chinesische Tusche oder sog. Indian Ink (Scriptol ist das Gleiche) genutzt.
Zu aller Überraschung erwies sich, dass man mit einem Mischungsverhältnis von 10T Wasser und 1T Tusche eine immer noch deutliche und genügend dunkle Spur erhält, die auch noch etwas Leben durch die Überlagerungen halbtransparenter Spuren erzeugt.







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